Novosibirsk I
Schon Viertel von Vier weckt mich die Provodniza. Sie macht das wohl immer sehr rechtzeitig, weil sie sehr oft total besoffene Russen davon überzeugen muss, doch endlich wach zu werden. Als sie aber merkt, dass ich klarer Sinne bin, entschuldigt sie sich und sagt, dass ich noch Zeit habe. Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Novosibirsk wechselt sie noch schnell die Bettwäsche und versucht dabei so leise wie möglich zu sein, um die Nachbarin nicht zu stören.
Am Bahnsteig in Novosibirsk soll mich ein Fahrer abholen (für 300 Rubel), der ein Schild mit meinem Namen tragen soll. Aber weit und breit kein Mann mit Schild zu sehen. Auf einmal spricht mich ein junger Russe an. Wir versuchen uns zu verständigen und bald habe ich das Gefühl, dass er die Details und Adresse kennt, zu der er mich hinbringen soll. Wir kommen zu seinem kleinen japanischen Auto und mein Gepäck belegt die ganze Rückbank. Ich soll vorne Platz nehmen. Wie gewohnt geh ich auf die rechte Seite, sehe aber dann das Lenkrad rechts. Später erfahre ich, dass ca. 70 Prozent der Fahrzeuge in Novosibirsk Rechtslenker sind, weil sie billig gebraucht direkt aus Japan oder Korea importiert werden.
Der Fahrer programmiert das Navi mit der Adresse meiner ersten Gastfamilie. Es ist Elena mit ihrer Tochter. Wir haben per Mail vereinbart, dass ich vor dem Haus kurz ihre Mobilfunknummer anrufe und wenn sie meine deutsche Nummer auf dem Display sieht, dann runter auf die Straße kommt. Die Fahrt geht durch das nächtlich Novosibirsk und wir sehen die letzten Nachtschwärmer aus den Nightclubs der Stadt kommen. Die Gegend wird immer dunkler und wir biegen in eine kleine Straße zu hohen Häuserblocks ein. Mir wird ein wenig mulmig, aber ich habe ja mein Pfefferspray bereit. Der Fahrer kennt nicht genau die Adresse und muss trotz Navi etwas suchen. Dann meint er, dass wir angekommen sind. Ich rufe Elena an und sie meldet sich sofort. Ein gutes Zeichen. Wir warten ein paar Minuten und der Fahrer bleibt dankenswerter Weise bei mir. Er sucht die Gegend ab nach den richtigen Eingang. Ein zweiter Anruf ist notwendig, um genau den Hauseingang zu finden. Dann endlich sehe ich eine Frau im Bademantel auf der Straße, begrüße sie und wir gehen ins Haus. Wir besteigen den klapprigen Aufzug und fahren in den 9. Stock. Dort betreten wir, über zwei Türen gesichert, die kleine Wohnung. Elenena erzählt mir, dass sie noch plötzlich Besuch bekommen hat und das Zimmer jetzt voll ist. Sie legt mir eine Matratze in den Flur. Ich nehme meinen Schlafsack und schlafe den Rest der Nacht auf dem Flur.
Da am nächsten Morgen alle über mich drüber steigen müssen, werde ich schnell wach. Ich stehe auf und werde zwei jungen Männern vorgestellt. Ich begrüße sie auf Russisch, aber Elena sagt mir, dass dies gar nicht nötig ist. Beide sind deutsche Studenten aus Dresden. Matthias und Perry. Mattias hat ein Jahr in Peking gelebt und chinesische Kinder in Englisch unterrichtet, Perry, sein Freund, hat ihn nun abgeholt und die beiden fahren die transsibirische Eisenbahn in umgekehrter Richtung nach Moskau, um dann von dort nach Hause zu fliegen. Das ist besonders wertvoll für mich, denn da wo die beiden herkommen, will ich hin.
Elena macht Frühstück und kocht Tee. Mangels eines großen Tisches lassen wir uns alle auf einer Decke mitten im Wohnzimmer nieder, wie bei einem Picknick. Dabei erklären sie mir den Plan des Tages, den sie schon gestern abgesprochen haben. Nach einer kurzen Stadtbesichtigung wollen wir uns mit weiteren Freunden treffen und ca. 20 km außerhalb der Stadt an dem Strand des Ob (ein sehr großer Fluss, der an Novosibirsk vorbei fließt) eine kleine Grillparty machen. Schaschlik-Spieße und Hähnchenflügel soll es geben. Jeder macht eine kleine Kostenbeteiligung und schnell ist das Geld für die notwendigen Einkäufe zusammen. Wir machen uns fertig und gehen um die Ecke in einen sehr modernen Supermarkt, der es mit jedem unserer Supermärkte aufnehmen kann. Das Angebot ist reichhaltiger als bei uns und man sieht überall deutsche Marken. Wir kaufen ein paar Sachen für die Grillparty und laufen dann weiter zur Wohnung von Eva, der Freundin von Elena. In der Wohnung warten schon jeden Menge andere Freunde und wir werden einander vorgestellt. Eine sehr interessante Gruppe und alle sehr aufgeschlossen und neugierig, was man so macht. Die meisten können sich sehr gut verständigen. Eva will sogar immer deutsch mit uns reden um ihr Deutsch zu verbessern.
Wir schleppen Unmengen von Zeug aus der Wohnung für die Grillparty. Als wir dann noch in den Getränkemarkt um die Ecke gehen und Unmengen an Bier- und Limonadenflaschen abfüllen lassen, wir mir die Sache mulmig. Wie sollen wir das alles durch die Stadt schleppen. Aber dafür haben die Damen auch schon eine Lösung. Kurzerhand werden alle Tüten und Flaschen in einem kleinen Lebensmittelgeschäft im Kühlhaus untergestellt. Eva kennt die Inhaberin und sie erlaubt und das Kühlhaus zu benutzen.
Wir fahren mit der Metro, die genau wie die in Moskau aussieht, in die Innenstadt. Überall gibt es viele interessante Gebäude und die Damen erklären uns die Sehenswürdigkeiten. Elena hat an der Eisenbahnuniversität studiert und früher mal als Landvermesser bei der Baikal-Amur-Linie gearbeitet. Sie hat dort die Ersatzstrecke vermessen. Ein wirklich anstrengender Beruf, der aber auch den Vorteil hatte, ständig in der Natur zu sein. Später werden wir die dort erworbenen Kenntnisse noch gut brauchen können.
Die Stadt ist voll von Bräuten mit ihren frisch gebackenen Ehemännern. Die Hochzeitsgesellschaften fordern das jeweilige Brautpaar auf, vor interessanten Hintergründen zu posieren und machen jede Menge Fotos. Ich mische mich jeweils in die Gruppen, und schieße auch ein paar Schnappschüsse.
Nach der Stadtbesichtigung und nachdem wir die Lebensmittel aus dem kleinen Geschäft abgeholt haben, besteigen wir einen kleinen Minibus und fahren zu der sogn. “Academic City” Das ist eine separate kleine Stadt vor den Toren Novosibirsks, die man extra für die Wissenschaftler der Universitäten angelegt hat. Hier wollte man ihnen besonders gute Bedingungen bieten, um sie zu motivieren in Novosibirsk zu forschen und zu lehren. Die Förderung hat sich wohl bezahlt gemacht, denn nach Aussage von Elena hat Novosibirsk die besten Universitäten Russlands. Vielleicht ist es aber auch nur ihr Stolz auf ihre Stadt
Wir laufen durch einen kleinen Wald, in dem die Moskitos über uns herfallen. Ich hatte schon in weiser Voraussicht “Anti-Brumm” aufgelegt, aber die Moskitos zeigen sich nicht sehr beeindruckt. Vielleicht sollte Stiftung Warentest hier den Produkttest, bei dem “Anti-Brumm” als Testsieger abgeschnitten hat, noch einmal wiederholen.
Wir erreichen einen herrlichen Sandstrand an dem sogn. Ob-See, der leider am Waldrand total zugemüllt ist. Hier treffen sich jeden Tag viele große Gruppen und feiern eine Grillparty, nehmen aber leider anschließend den Müll nicht wieder mit. Der Ob-See ist künstlich angelegt und aus riesengroßen Sandgruben entstanden. Man hat einfach den Ob durch die Gruben durchgeleitet. Das Wasser ist noch ziemlich kalt und ich habe auch keine Badeklamotten dabei. Deswegen gehe ich nur bis zu den Knien ins Wasser. Wir Männer sammeln Holz und Steine für die Feuerstelle, Baumstämme zum Sitzen und Elena macht, ganz Profi, schnell das Feuer an. Schließlich hat sie das ja bei ihrem Leben in der Sibirischen Wildnis jeden Tag machen müssen. Bald ist die Kohle so heiß, dass wir die Spieße grillen können. Wir sitzen alle um den Grill zusammen und alles schnattert in verschiedenen Sprachen durcheinander. Die Russen lassen uns bei den fertigen Spießen den Vortritt. Ich glaube es ist eher Gastfreundschaft als Vorsicht. Insgesamt habe ich sehr interessante Gespräche geführt, auch auf Deutsch mit den beiden Studenten.
Als es langsam dunkel wird, teilt sich die Gruppe auf. Die Jungen bleiben noch und wollen weiter feiern, die Älteren machen sich mit der “Elektrischka”, dem Vorort-Bummelzug, zurück nach Novosibirsk. Wir müssen noch zweimal die Buslinie wechseln und dann noch ewig zu den Wohnblocks laufen, weil ab 21:00 keine Busse mehr in diese Gegend fahren. Müde und verschwitzt erreichen wir Elenas Wohnung. Sie kocht erst mal einen Tee und hilft mir bei der weiteren Reiseplanung. Danach genieße ich die Dusche in ihrem kleinen Bad, in dem sich neben der Badewanne nur noch die Waschmaschine und ganz hinten in der Ecke das Klo befindet. Ein Waschbecken ist nicht vorhanden. Aber das ist wohl kein Problem, denn sie hat ja ein Waschbecken in der Küche.
Als ich gerade meinen Schlafsack ausgepackt habe und schlafen will, kommen die beiden Studenten mit der Tochter von Elena zurück vom Strand. Sie beschließen noch in einen Nachtclub zu gehen, ziehen sich noch kurz um und machen sich chic für die Disko. Dann herrscht endlich Ruhe und ich kann schlafen.