Ekaterinburg-Novosibirsk
Schon eine halbe Stunde bevor mein Wecker um 05:00 klingelt wache ich auf. Der Straßenlärm dringt durch das offene Fenster in mein stickiges Zimmer. Ich bleibe noch liegen, bis sich mein Blackberry mit dem Weckton meldet.
Das Zeitmanagement gestaltet sich auf der Reise schwierig. Alle Züge fahren in ganz Russland nach der Moskauer Zeit. Deswegen habe ich meine Armbanduhr auch auf der Moskauer Zeit belassen obwohl ich nun schon 2 Stunden weiter bin. Man muss sich daran gewöhnen, dass alle Uhren am Bahnhof nicht die lokale Zeit anzeigen sondern immer die Moskauer Zeit. Noch ist das bei zwei Stunden Zeitunterschied zur Moskauer Zeit zu verkraften, aber auf meiner Reise werden es bis zu sieben Stunden. Mein Blackberry erkennt die lokale Zeit aus dem Mobilfunknetz automatisch, deswegen benutze ich ihn als Wecker. Auf dem iPad habe ich dann noch die lokale Zeit in Darmstadt belassen um nicht dauernd kompliziert rechnen zu müssen. Mit jeder Zugfahrt durchquere ich mindestens eine Zeitzone und da kann man sich schnell vertun.
Mit dem Weckton springe ich aus dem Bett, steige ein letztes Mal in die modrig riechende Dusche. Den Rucksack hatte ich schon am Vorabend fertig gepackt und so bin ich sehr schnell fertig. Morgens um 20 nach 5 dauert der Checkout-Prozess auch nicht lange und Gott-sei-Dank hatte mich die Englisch sprechende Rezeptionistin darauf hingewiesen unbedingt an das Registrierungsdokument zu denken. Die beiden verschlafenen Damen an der Rezeption hatten das total vergessen und ich muss sie daran erinnern. Man muss sich in Russland an jeder Stelle, an der man sich mehr als zwei Tage aufhält, bei den Behörden registrieren. Normalerweise macht das das Hotel, aber bei Privatunterkünften muss man sich selbst darum kümmern.
In der Morgendämmerung überquere ich den Bahnhofsvorplatz und merke, dass ich noch sehr viel Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges um 06:30 (lokal) habe. Um 06:06 soll er am Bahnsteig ankommen. Da außen am Bahnhof die Anzeigetafeln für die Bahngleise angebracht sind, entschließe ich mich auf den Stufen zum Bahnhofseingang niederzulassen. Nun kommen die Ärmsten der Stadt vorbei und versuchen Essen oder Zigaretten zu schnorren. Leider kann ich mit beidem nicht dienen. Die verdreckten Männer sind von der Nacht noch so besoffen, daß ich Angst habe, sie würden stürzen und ich müsste noch Erste Hilfe leisten.
Endlich wird das Gleis meines Zuges angezeigt und ich laufe zum Bahnsteig. Schon am Tage vorher hatte ich mich mit den Gegebenheiten des Bahnhofes vertraut gemacht, ohne das schwere Gepäck dabei zu haben.
Ich laufe auf das angezeigte Gleis 10 und sehe eine Riesengruppe Backpacker. Da bist du richtig, denke ich, aber auf Gleis 10 wird kein Zug angezeigt. Stattdessen hört man eine lange russische Durchsage und die Gruppe setzt sich sofort in Bewegung. Gleiswechsel, denke ich sofort und laufe der Gruppe hinterher. Im Tunnel entdecke ich dann auch, dass der Zug nun von Gleis 6 abfährt. Ich steige die Treppe hoch und laufe zum Wagon 8, der wie immer ewig weit weg ist. Die Provodniza steht schon lächelnd an der Türe und kontrolliert mein Ticket und weist mir das Abteil 2 zu, obwohl auf meinem Ticket eigentlich das Abteil 1 steht. Dieses Abteil haben sie aber selbst in Beschlag genommen und es sich gemütlich gemacht.
Aber egal, das Abteil 2 ist genauso hübsch und in der Ersten Klasse. Auf dem Tisch stehen Getränke und Süßigkeiten. Das Wasser tut gut nach der Schlepperei. Direkt nach der Abfahrt bieten sie mir Getränke an, die ich aber dankend ablehne. Im Nebenabteil sind zwei Männer, die auch auf den Gang kommen und die Lage abchecken. Einer der Männer spricht mit in astreinem Englisch an und fragt wo ich herkomme. Ich sehe wohl nicht wie ein Russe aus. Es stellt sich heraus, dass er Mitarbeiter der Niederländischen Botschaft in Ekaterinburg ist und nun mit dem Leiter der Botschaft zur Außenstelle nach Tjumen fährt. Ich erkläre ihm noch meine Tour und er ist begeistert und interessiert. Die Beiden ziehen sich in ihr Abteil zurück und auch ich hole erst einmal ein paar Stunden Schlaf der vergangenen Nacht nach. Dabei überquere ich den Ural, ein Gebirge, das sich über 2500 km von Nord nach Süd ausdehnt. Der Ural ist ca. 1800 m hoch, die Bahnstrecke überquert das Gebirge aber in einer sehr niedrigen Höhe von ca. 500 m. Unterwegs sehe ich immer wieder blätterlose weiße Birkenstämme. Hier hat wohl ein Waldbrand alle Blätter vernichtet nur die Stämme mit ihrer weißen Rinde bleiben dann stehen. Schon von weitem sehe ich auf einmal eine riesige Rauchwolke. Auch hier brennt wieder mal ein Stück Wald.
Die Provodniza weckt mich und ich soll meinen Rucksack von der gegenüber liegenden Bank zu mir holen. Ein zweiter Gast betritt das Abteil, ein junger Russe, kurz geschorene Haare, Typ Türsteher einer Disko. Er ist nicht sehr gesprächig, obwohl er ganz passabel Englisch kann. Immerhin erfahre ich, dass er nach Omsk will und gerade die Verwandten in Tjumen besucht hat zur 5 jährigen Todesfeier seines Großvaters. Während der Fahrt liest er ein Buch über Stalin. In Omsk verlässt er das Abteil. Schon kurz vorher ziehen die Provodnizas das Bett ab und holen frische, eingeschweißte Bettwäsche für den nächsten Gast.
Kurze Zeit später kommt eine junge Frau, Typ russische Schönheit mit Glitzerjeans, zusammen mit Ihrem Freund/Mann in das Abteil. Die Verabschiedung ist herzlich und innig. Der Mann muss schnell den Zug verlassen, weil die Bahn äusserst pünktlich abfährt.
Schnell verschwindet die Frau mit älteren Klamotten und kommt bald umgezogen zurück. Sie macht wortlos das Bett, kuschelt sich in die Decke und schläft ein.
Ich kann noch nicht schlafen, denn es ist ja noch hell draußen. Und über die Zeitverschiebung und meinen Schlaf vom Vormittag fühle ich mich noch gar nicht müde.
Ich nehme Rücksicht auf sie und mache das Licht im Abteil aus. Mit dem beleuchteten Laptop kann ich auch ohne Licht noch die von den Lieben zuhause erwarteten Texte schreiben.
Leider ist die Batterie schnell leer und so muss ich bald mit der Arbeit aufhören. Ich gehe nochmal raus und frage die Provodniza, ob sie mich um 04:00 lokale Zeit wecken kann. Sie versteht das, obwohl sie kaum Englisch kann. Aber mit ein paar Wörtern und Zahlen kommt man schon ans Ziel.
Ich gehe zurück ins Abteil, stelle zur Sicherheit noch meinen Wecker und schlafe auch ein.